Tomas Kubelik

»Gerade das Unnütze nennen wir Kultur«

Interview. Tomas Kubelik, Nachfahre von Jan und Rafael Kubelik, fordert in einem Buch mehr Freiheit für Schulen und Lehrer. Ein Gespräch über Fleiß, Punkte statt Reife – und warum die Schule familiäre Prägungen nicht korrigieren kann.

5. Jänner 2022 („Die Presse“)

Kubelik – welch klingender Name im Konzertleben des 20. Jahrhunderts! Der Prager Jan Kubelik zählte ab der Jahrhundertwende zu den besten Geigern seiner Epoche. Sein Sohn, der Dirigent Rafael Kubelik, ist der Nachwelt unter anderem durch die erste Gesamteinspielung der Mahler-Symphonien in Erinnerung, aber auch durch ein legendäres „Freiheitskonzert“ nach der Samtenen Revolution in Prag 1990 – mit Smetanas „Mein Vaterland“ schrieb er damals Interpretationsgeschichte.

Ihr Nachfahre Tomas Kubelik ist mit Leidenschaft Gymnasiallehrer. In einem Buch und im Gespräch mit der „Presse“ kritisiert er Lehrpläne, die „oft nur schwammig-unverbindliche Kompetenzen auflisten“ und mit „realitätsfernen Zielsetzungen“ vollgestopft seien. Er fordert, dass Schulbücher ganz von der Approbationspflicht ausgenommen werden, und wünscht sich mehr Freiräume für Lehrkräfte.


Michaela Schlögl: Wünschen Sie eine „samtene Revolution“ für das Schulreglement?

Tomas Kubelik: Die Regulierungsdichte an Schulen ist enorm und wächst pausenlos. Das entspricht nicht den Idealen einer offenen Gesellschaft, zumal die Ziele staatlicher Vorgaben oft nebulos sind. Der Staat sollte sich auf wenige Rahmenvorgaben beschränken und echte Wahl ermöglichen. Gleichzeitig darf sich die Schule nicht selbst überfordern. Statt Reparaturanstalt gesellschaftlicher Fehlentwicklungen sein zu wollen, sollte sie sich bescheidene Ziele setzen, diese aber mit Leidenschaft verfolgen. Letztlich bedarf es einer breiten Diskussion darüber, was Schulen leisten können und sollen. Und: Digitalisierung darf nicht unkritisch zur pädagogischen Doktrin werden.

Obwohl Sie Mathematiker sind, kritisieren Sie „Anbetung der Zahlen“ und den Primat des Utilitarismus im Bildungswesen. Auch die Pisa-Studien sind Ihnen ein Dorn im Auge. Was ist so schlimm daran?

Die Pisa-Studien wurden von privaten Bildungsdienstleistern im Auftrag der OECD entwickelt und orientieren sich bewusst nicht an traditionellen nationalen Lehrplänen, sondern definieren einen eigenen, mehr als fragwürdigen Bildungsbegriff. Soll es in den Schulen wirklich nur mehr um das Verwertbare gehen, also um Bildungsstandards und darum, junge Menschen für ein Leben mit hohem Sozialstatus und maximalen Konsummöglichkeiten zu präparieren? Oder sollten wir nicht doch eher die Kultivierung autonomer, urteilsfähiger und mündiger Persönlichkeiten anstreben?

Wie erleben Sie den Umgang mit musischen Fächern im Schulsystem?

Die ästhetischen und künstlerischen Fächer sind durch die Ökonomisierung und Funktionalisierung aller Bildungsprozesse in einen andauernden Legitimierungszwang geraten. Dabei ist es gerade das Unnütze, das wir Kultur nennen!

Wie machen Sie den Schülern klar, dass sie sich für Unnützes anstrengen sollten?

Ich versuche ihnen bewusst zu machen, dass jeder Mensch bereit ist, sich anzustrengen, wenn ein Sinn dahintersteckt. Ich versuche ihnen die Erfahrung zu ermöglichen, wie befriedigend es ist, etwas durch eigene Anstrengung bewältigt zu haben. Und ich weise sie darauf hin, dass fast alles, was das Leben lebenswert macht, keinen pragmatischen Nutzen hat: ein Musikinstrument lernen, eine Sportart ausüben, ein anspruchsvolles Buch lesen.

Als Deutschlehrer beklagen Sie, dass die Schularbeiten in der Oberstufe keine langen Gedankenbögen mehr erlauben. Wozu führen strikte Vorgaben wie etwa die vorgeschriebene Mindest- und Höchst-Wörteranzahl?

Hochschulreife braucht Vertiefung und mehr geistige Freiheit. Die kompetenzorientierten Aufgabenstellungen fördern das nicht unbedingt. Bedauerlich ist auch der weitgehende Verzicht auf Literatur – wenn es kein höheres bildungspolitisches Ziel mehr gibt, als bei standardisierten Tests möglichst viele Punkte zu erreichen, verarmt die Kultur!

Apropos Kultur: Im Fall von Künstlern stellt niemand infrage, dass es außer Talent vor allem Fleiß, Disziplin und Leistungswillen braucht, um in Studium und Beruf weiterzukommen. Hat es außerschulische oder auch schulische Gründe, dass sich Schüler oft so schwertun, ihre Ressourcen richtig zu orten und zu nutzen?

Fleiß und Anstrengungsbereitschaft gelten immer noch häufig als reaktionäre Tugenden. Sehr viele Kinder folgen daher ausschließlich dem Lustprinzip. Die Schule begünstigt diese Konsumhaltung mitunter, indem sie das Leistungsprinzip untergräbt. Man gaukelt den Schülern vor, höhere Bildungsabschlüsse seien ohne größere Hürden zu erlangen.

Der eben veröffentlichte „Nationale Bildungsbericht“, der dem Parlament vorgelegt wurde, streicht wieder die sozialen Ungleichheiten heraus, die Leistungsunterschiede und Bildungswege begründen würden. Was meinen Sie dazu?

Dass schulische Strukturreformen die familiäre Prägung der ersten Lebensjahre wettmachen können, ist empirisch längst widerlegt. Solang es Familien geben darf, werden diese ihren Kindern ganz unterschiedliche Startbedingungen mitgeben. Dabei geht es nicht nur um angeborene Intelligenz, sondern auch um Voraussetzungen, die schwer messbar sind, aber großen Einfluss haben: Fleiß, Ordnungssinn, Medienkonsum, Leistungsmotivation, Frustrationstoleranz. Wenn im Elternhaus Bildung keine Rolle spielt, steht der Staat auf verlorenem Posten. Das ist so lang kein Problem, solang jedem, der will und kann, dieselben Chancen offenstehen. Die wichtigste sozialpolitische Maßnahme wäre freilich, alles dafür zu tun, dass jedes Kind die deutsche Sprache fehlerfrei beherrscht. Das einzufordern ist allerdings ein politisches Minenfeld.