Sie brachte sogar Victor Hugo zum Weinen
100. Todestag. Paris huldigt Sarah Bernhardt, der berühmtesten Schauspielerin ihrer Zeit: Eine Schau zeigt, wie sie zum Inbegriff einer freien Frau wurde, Emotionen weckte wie keine andere und exzentrisch nach dem Motto „Trotzdem!“ lebte.
12. Juni 2023
Paris ist längst wieder in der „Normalität“ angekommen. Das beweisen die bis zum letzten Platz gefüllten Bateaux Mouches der Seine-Rundfahrten und das von amerikanischen Touristen gestürmte Petit Palais. Die dortige neue Sarah-Bernhardt-Ausstellung trägt das Motto „Und die Frau erschuf den Star“ — wohl frei nach dem Kultfilm „Et dieu créa la femme“ und jedenfalls im Anklang an die Bibel.
Und Sarah Bernhardt schuf den Star? Die von einer jüdisch-holländischen Kurtisane abstammende Sarah — der Vater war bis 2022 (!) unbekannt — inszenierte vor allem sich selbst. Ihr Motto lautete: „Quand même“, also: Trotzdem! Doch! Als Klosterschülerin wollte sie inbrünstig Nonne werden. Doch ein Liebhaber ihrer Mutter hatte sie ans Konservatorium empfohlen. Am Theater konnten sich ihre emotionalen Leidenschaften optimal entfalten. Sie war Hamlet — ihre knabenhafte Figur ließ sie glaubhaft auch Männer darstellen; und sie brillierte in pathetischen Partien wie „Phèdre“, „La Tosca“ und „La Dame aux camélias“, die wir heute nur noch von der Opernbühne kennen. Als sie die Jeanne d’Arc verkörperte, wurde sie endgültig zur französischen Nationalikone.
Bildhauerin und Krankenschwester
Die Bernhardt konnte viel: schreiben, malen, bildhauern. In ihrem Atelier ließ sie ihre Kunst bewundern. Sie führte Regie, leitete Theater und während des französisch-deutschen Krieges schlüpfte sie im Odéon-Theater, das ein Lazarett geworden war, in die Rolle der Krankenschwester. Wenn das Geld knapp wurde, sei es, weil ihr drogensüchtiger Ehemann es verbraucht hatte, sei es aufgrund von Theaterquerelen mit nachfolgenden Vertragsstrafen, ging sie auf Tournee. Nach London, quer durch Nord- und Südamerika (deshalb die zahlreichen amerikanischen Bewunderer bis heute). Sie trat in Ägypten, in der Türkei und Skandinavien auf und beglückte schließlich auch das Publikum in Australien. Mit acht Theaterstücken im Gepäck verdiente sie ein Vermögen.
Für ihre Verdienste um die französische Theatersprache wurde ihr das Kreuz der Ehrenlegion verliehen. Die Emotionen, die sie aufrührte, sind wohl nur mit denen auf modernen Rockkonzerten vergleichbar. Hysterie brandete bereits auf, wenn die Sonderzüge mit der Bernhardt und ihrem Tross in die Bahnhöfe einfuhren. Die Fans beteten sie an. Auch Künstlerkollegen wie Victor Hugo verehrten sie. Der Schriftsteller schenkte der Mimin nach einer ihrer Premieren ein Armband mit einem tropfenförmigen Diamanten — Symbol für die Träne, die er bei ihrem Auftritt geweint hatte. Marcel Proust schuf in seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ die Figur der La Berma nach ihrem Vorbild. Den Höhepunkt erreichte Bernhardts Ruhm in den 1920er-Jahren — als Künstlerin und als Ikone der freien, selbstbestimmten Frau. Schon nach ihrem ersten Theaterbesuch hatte sie notiert: „Ich spürte das Bedürfnis, aus mir eine Persönlichkeit zu machen“.
Dass sie exzentrisch war, in Särgen lag, einen ganzen Tiergarten um sich scharte — das waren Attribute. Was zählte, war, dass sie packend zugriff. So 1894 auf der Atlantik-Insel Belle-Île-en-Mer. Dort waren schon vor ihr Künstler wie Claude Monet und Gustave Flaubert charmiert von der ungezähmten Natur als Gegenwelt zu den parfümierten Salons. Ein leer stehendes Militärfort, an der äußersten Spitze der Insel, gefiel der Künstlerin. Sie kaufte es, baute Gästewohnungen, lud Freunde ein und lebte in den Sommermonaten in ihrem „Sarahtorium“. Manche fragten sich, ob dieser weibliche Vulkan überhaupt je Mußezeit und Erholung brauchte. Sie nützte ihr Refugium fast dreißig Jahre lang und speiste hier ihre Kreativitätsbatterie.
Es gab nur eine Rivalin: die Duse
In ihren letzten Jahren war sie wegen einer Knieverletzung mit folgender Amputation nur noch mit Krücken unterwegs, auch auf der Bühne. Zuletzt ließ sie sich tragen. Doch noch immer war sie in ihrem Genre fast konkurrenzlos. Auf Augenhöhe gab es nur eine Rivalin: Die Duse. Die jüngere Italienerin setzte weniger auf Pathos, war jedoch vom Spiel der Bernhardt so beeindruckt, dass sie ebenfalls in deren Rollen auftreten wollte.
Von Bernhardt konnte die Schauspielwelt auch in Sachen Marketing lernen. Alfons Mucha entwarf ihre Auftrittsplakate im brandneuen Jugendstil. Und sie nutzte das neue Auftrittsformat namens Kino, in dem sie bereits 1900 debütierte. Auch ein Österreicher erlag dem Charisma des „Stars“: Sigmund Freud hat diese Frau nicht analysiert. Sie war es, die ihn durch ihr Spiel in Victorien Sardous „Théodora“ anlässlich eines Gastspiels in London geradezu paralysierte. Jean Cocteau, kein Psychoanalytiker, nannte die Bernhardt denn auch poetisch-schlicht ein „heiliges Monster“.