Die Pariser Salons, das Schreiben und eine dominante, jüdische Mutter: Zwei Proust-Gedenkjahre gehen in die Endrunde.

Es sind dicht gewebte Romane. Dem Leser verlangen sie Ausdauer ab – und die Bereitschaft, sich auf Familien- und Gesellschaftsgeflechte, Zustände von Natur und Mensch konzentriert einzulassen. Wer sich beispielsweise auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ begibt, der darf nicht auf „Schnellsuche“ sein. Nicht umsonst stand zu Lockdown-Zeiten in einer englischen Zeitung, man könne Menschen zwar einsperren, aber nicht zur Proust-Lektüre zwingen.

2021 und 2022 verdichteten sich die Jubiläen dieses Intensiv-Schreibers: Anlässlich seines 150. Geburtstages feierte man das Vorjahr als Marcel-Proust-Jahr. Heuer, zum 100. Todestag am 18. November, wurden und werden vor allem in Paris einzelne Aspekte seines Lebens in den Ausstellungs-Fokus gerückt.

Welche? Beispielsweise Prousts Bezug zum Judentum (im Musée d’Art et d’Histoire du Judaïsme, die Schau lief bis August). Die Familie der Mutter (geborene Weil) kam ursprünglich aus Württemberg und dem Elsass nach Frankreich. Sie hatte Musiker, Architekten, Industrielle und Rechtsanwälte hervorgebracht. Prousts Vater entstammte dem ländlichen Milieu. Als er Jeanne Weil ehelichte, die Tochter eines reichen Börsenmaklers, prallten zwei Welten aufeinander: die kleinbürgerlich-katholische und die mondäne, jüdisch-agnostische.
Stiller Beobachter

Prousts Vater wurde als Professor für Hygiene zu einem internationalen Fachmann im Kampf gegen die Cholera. Sein Leben war von Fleiß und Disziplin bestimmt. Diese Tugenden hätte er sich auch für den erstgeborenen Sohn gewünscht. Doch der hatte das durchschaut: „Mein Vater hatte für meine Art von Begabung eine so sehr mit zärtlicher Liebe gemischte Nichtachtung, daß seine Gesamtreaktion gegenüber allem, was ich trieb, in blinder Nachsicht bestand.“

Marcel, der gerne mit dem Vater medizinisch fachsimpelte, zog es nicht in den Seziersaal, sondern in die Salons. Dort trat er kaum sprechend, sondern zuhörend auf. Er misstraute der Salonkonversation. Das seichte Getratsche ließ die Zeit noch schneller fließen, und im Bewusstsein des ununterbrochen sich bewegenden Sekundenzeigers steigerte sich seine Nervosität. Das Salongeschehen lieferte ihm Röntgenbilder und Befunde für das Wesentliche in seinem Leben: für das Schreiben. Proust vertraute auf Selbstbeobachtetes und auf Selbsterfahrenes.

Gleichzeitig suchte er nach einem „Jenseits“ der Salons. Das war nicht für alle dort Verkehrenden ein einheitlicher Begriff. Die mondänen Abendgesellschaften wurden von Aristokraten, Bürgerlichen, Künstlern und Intellektuellen besucht, von Katholiken und jüdischen Kaufleuten. Spiegelgleich tauchten sie in Prousts Romanen auf. (Sein „Pariser Universum“ präsentierte das Musée Carnavalet: „Marcel Proust, un roman parisien“.)

In der Affäre Dreyfus hat sich Proust persönlich politisch engagiert, indem er für den Verurteilten Partei nahm. Und er bemerkte in seinen Texten, wie sehr diese Polit-Causa die französische Gesellschaft spaltete: Man hatte Stellung zu beziehen, pro oder contra Dreyfus.

Es war selten, dass Proust sich deklarierte. Auch sein Ich-Erzähler bleibt anonym und alterslos. Dem Vorwurf, er stelle als Romancier lebende Personen bloß, verberge sich selbst jedoch konsequent, konterte der Autor: Kunst und Künstler stellten für ihn zwei voneinander unabhängige Sphären dar. In den Salons befand er sich quasi auf Beobachtungsposten. Doch sogar in dieser „Deckung“ plagten ihn Unsicherheitsgefühle, eine Scham, als wäre er eine Persona non grata – und gar nicht eingeladen. Er kompensierte dieses gesellschaftliche Unwohlsein durch betonte Höflichkeit und übergroße Trinkgelder.

Das mangelnde Selbstwertgefühl betraf auch sein Schreiben, wenn er klagte: „Nach ein paar einleitenden Seiten legte ich die Feder unmutig wieder aus der Hand und weinte vor Wut bei dem Gedanken, ich würde nie Talent haben, sei eben nicht begabt.“

Dass er schon früh in der Zeitschrift „Revue blanche“ publizierte, wo seine Texte neben denen von Verlaine und Mallarmé gedruckt wurden, konnte diese Skrupel nicht mindern. Es gab sie, die Kritik von Zeitgenossen an seinem Stil und seinen mäandernden Sätzen. Nachdem der Leiter eines Verlagshauses in Prousts Manuskript hineingelesen hatte, lehnte er eine Veröffentlichung ab und erklärte, es sei ihm unverständlich, „dass ein Mensch dreißig Seiten braucht, um zu beschreiben, wie er sich vor dem Einschlafen im Bett hin und her wälzt“.


Kontakte & Vorbilder

Doch die Mühsal des Schreibens und die mangelnde Akzeptanz seiner Werke waren für den Autor alternativlos, stellte der Akt des Formulierens doch eine Art von Ersatzleben für ihn dar: „Andere als ich … können das Universum genießen. Mir selbst ist Bewegung, Rede, Denken, sogar das schlichte Wohlgefühl der Schmerzlosigkeit versagt. So gleichsam aus mir selber verbannt, flüchte ich mich in die Bände (der Verlorenen Zeit) …“

Im Dezember 1919 erhielt er zwar den Prix Goncourt, die französische Roman-Weihe, für den Band „Im Schatten junger Mädchenblüte“, der eben bei Gallimard erschienen war. Aber an seinen Selbstzweifeln änderte die Auszeichnung nichts. So, wie er die Seichtigkeit des Salongeflüsters kritisierte, mokierte er sich auch über die Eitelkeitsattitüden der Salongäste. Auch wenn er selbst einer von denen war, die sich in Gesellschaft jemandes gefielen, dessen Ahnen an den Kreuzzügen teilgenommen hatten.

Den exaltierten Grafen Robert de Montesquiou, der in den Panzer seiner Schildkröte Smaragde einarbeiten ließ (das Tier hat nicht überlebt), gab es wirklich. Er ging in die „Suche nach der verlorenen Zeit“ ein als Vorbild für den Baron de Charlus.

Schließlich brachte das nächtliche Salonleben Proust ganz reale Künstlerkontakte, auch mit Schreibenden: Er lernte Schriftstellerkollegen wie André Gide und Jean Cocteau kennen. 1922, kurz vor Prousts Tod, gab der englische Autor Sydney Schiff einen Abend zu Ehren der Ballets Russes. Strawinsky und Picasso waren anwesend – und Autorenkollege James Joyce. Doch zwischen den beiden schreibenden Exzentrikern, deren einer underdressed im Straßenanzug, der andere, stets frierend, im Pelzmantel auftauchte, entwickelten sich keine Spontan-Sympathien. Jeder Künstler sei der einzige Bewohner seines eigenen Planeten, wusste Proust.

Die in den Salons verkehrenden Zelebritäten erhielten im Roman Decknamen: Monsieur Bergotte steht für die Literaten, für Alphonse Daudet, Anatole France und John Ruskin; Monsieur Vinteuil für die Musik, für Beethovens späte Streichquartette, für Debussy, Franck, Saint-Saëns, Fauré, César Franck und Wagner; Elstir für die Malerei Monets, Turners und Whistlers.

1894 hatte Proust die Bekanntschaft Oscar Wildes und des Komponisten Reynaldo Hahn gemacht. Mit Wilde entstand keine engere Beziehung. Mit Hahn hingegen verbrachte Proust viel Zeit. Die beiden wurden für zwei Jahre ein Paar. Zeitlebens hatte Proust Angst, seine Mutter könnte seine homosexuelle Neigung entdecken.

Prousts Mutter, eine intelligente, offene Frau, war gleichzeitig die starke Mater familias. Nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Mutter trug sie nur noch Trauerkleidung. Ihre lebenslange Sorge galt dem asthmakranken Sohn Marcel, ihrem „armen Wolf“. Das Zeremoniell des mütterlichen Gute-Nacht-Kusses schilderte Proust schon in seinem frühen Roman „Jean Santeuil“, in dem die Mutter bekannte: „Ich habe ihm heute zum ersten Mal nicht an seinem Bett gute Nacht gesagt, und das regt ihn sehr auf … er ist so beeindruckbar.“

Seit dem Tod der Mutter 1905 verweigerte der Schriftsteller sich noch mehr dem Leben. Er stand nicht mehr vor 10 Uhr abends auf. Seine Lebenszeit war nur noch die Zeit des Schreibens, Literatur das Medium zur Bewältigung und zum Verständnis des eigenen Daseins. Nur der Kunst sei Dauer beschieden. Um die Vergänglichkeit zu überwinden, musste er schreiben. Und zwar über eine große „Krankheit namens Liebe“ – deren Symptome dieselben seien, ob man auf eine gleich- oder andersgeschlechtliche Person eifersüchtig sei.
Korrekturfahnen der „Verlorenen Zeit“ mit Anmerkungen von Proust.

Im Seebad Cabourg, aber auch in seinem Pariser Zimmer, das er gegen den Straßenlärm mit Kork abdichten hatte lassen, notierte er in Hefte. Es entstanden dicht beschriebene Manuskripte, die während der Korrekturphase nach allen Seiten hin „wuchsen“. Papierstreifen, falt- und einklappbar, fügte er überall ein, wo er den Text änderte. Reinschriften wurden von guten Geistern mit Maschine abgeschrieben – und der Dichter fragte vorlaut: „Haben Sie immer noch Lust, mit Ödipus zu rivalisieren und die einer Sphinx würdigen Rätsel meiner Handschrift zu entziffern? Wenn ja, schicke ich Ihnen einige Hefte, deren Rätselhaftigkeit alles übersteigt …“
Selbsterforschung

Mit seinen Verlegern hegte Proust kein Mitleid, retournierte die Druckfahnen mit so vielen Einschüben und Korrekturen, dass sie aussahen wie seine ursprünglichen Entwürfe. Er schimpfte über Druckfehler in den Fahnen, obwohl er selbst sich alle Freiheiten der Rechtschreibung nahm: Für deren Richtigstellung sei der Korrektor da! (In der Nationalbi-bliothek in Paris läuft derzeit übrigens eine Ausstellung zu Prousts Schreibpraxis.)

Die Haushälterin Céleste Albaret, die Proust acht Jahre lang engagiert hatte, pflegte ihn bis zu seinem Tod. Und sie betreute sein entstehendes Werk, die sogenannten „Paperolles“. Es war Céleste Albaret, der Proust im Frühjahr 1922 anvertraute, er habe auf die letzte Seite seines Manuskripts „Ende“ geschrieben – nun könne er sterben. Seinen Beitrag zur Unsterblichkeit hatte er geliefert: „Kunst, dasjenige Medium, aus dem einzig wir aus uns selbst herauszutreten vermögen …“

Nach Prousts Meinung benutzt ein Schriftsteller nur ganz unaufrichtig, beispielsweise in Vorreden oder in Widmungen, die Anrede „Mein lieber Leser“. In Wirklichkeit sei jeder Leser, wenn er liest, ein Leser seiner selbst, dem das Werk vom Autor nur als eine Art von „optischem Instrument“ gereicht würde, auf dass er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Nur die Selbsterkenntnis des Lesers sei letztlich der Beweis für die Wahrheit eines Buches.

Doch wer kennt schon sich selbst? Aber, da gibt es noch eine Proust’sche These. Das wichtigste Kriterium für den Kunstgenuss sei: sich überraschen zu lassen.


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